Architektur ist ein Gefühl für Proportion

Wie sähe in Varel ein neues Veranstaltungshaus aus? Was würde ein solcher Bau mit welchen Mitteln darstellen und vermitteln wollen? Der Antwort kann man sich über einen Umweg recht präzise annähern. In einer Gegenüberstellung zweier Fotografien, zwischen denen wohl ca. 60 Jahre liegen, kann man eine Idee nachzeichnen, die das repräsentative Bauen in dieser Stadt veranschaulicht:

Zu sehen ist die Neue Straße mit Blick Richtung Oldenburger Straße. Auf der linken Seite ist das Hotel Ebole zu erkennen. Die Fassade von 1815 ist heute noch weitgehend erhalten, allerdings wurden die Fenster modernisiert (vgl. W.M. Janssen „Bauten in Varel“, S. 110). An das Gebäude schließt sich zwei Häuser weiter die ehemalige Landessparkasse Oldenburg an. Beide Bauwerke waren repräsentative Bauten bürgerlichen Selbstbewusstseins und Erfolges. Beide Bauten verkörperten zudem auch Kontinuität, denn das Hotel Ebole war seit 1800 sowohl ein Posthaus als auch eine Gastwirtschaft. Erst 1877 wurde aus der Gastwirtschaft auch ein Hotel. Die Landessparkasse Oldenburg wurde 1786 gegründet und hatte seit 1915 eine selbstbewusste Niederlassung in der Stadt. Auf der gegenüber liegenden Straßenseite waren eher typisch kleinteilige Gebäudetypen vertreten, unter anderem auch die legendäre Gaststätte „Vareler Krug“ von Jupp Sommer.

Schaut man heute auf die Straße, so hat sich die Konstellation umgekehrt. Die einst repräsentativen Bauten wirken gegenüber dem massiven Gebäudekomplex der EWE und der Raiffeisenbank klein und mit ihrem Fassadenschmuck fast feinsinnig. Die EWE-Filiale hingegen ist ein demonstrativer Machtbau, dessen Architektur eine komplexe Textur ist. Der Klinker zitiert den regionalen Baustoff nur, denn im Kern handelt es sich um ein Betongebäude, das die Fassade durch große Fensterpartien bricht und aufzuheben scheint. Die Klinker wirken auf den zweiten Blick wie Säulen, vergleichbar den unechten bzw. vorgeblendeten Säulen am Gebäude der Landessparkasse Oldenburg.

Ehemalige Niederlassung der Landessparkasse zu Oldenburg in Varel. Überraschend sind die Sternzeichen als Rahmung des Eingangs / Foto: N.Ahlers

In der Fassade, vor allem in der Rundung zur Bundesstraße hin, dominiert das Glas, das vordergründig eine kundenorientierte Transparenz vermitteln soll, faktisch aber für reale Dominanz im regionalen Energie- und Kommunikationsmarkt steht. Die Flachdächer und das Penthouse-Büro betonen die Form des Kastens, die den ganzen Komplex definiert und abweisend wirkt. Dass man mit diesem Gebäudekomplex auch den Bereich der einst einflussreichen VW-Vertretung Albrechts & Anders überbaut hat, ist dabei eine stille Fußnote der Vareler Stadtgeschichte, denn das Unverstandene in der Geschichte klingt auch in der Ignoranz der Häuser nach, die auf deren Grund stehen.1

Das, was einst im ausgehenden 19. Jahrhundert repräsentativ für bürgerliches Selbstbewusstsein war, ähnlich den Bauten um den Vareler Schlossplatz, wirkt heute in Lust am Detail und im Gefühl für Proportionalität wohltuend und erhaltenswert – allerdings auch, weil die alten Bauten gegenüber denen der Gegenwart geradezu schutzlos wirken.

Es ist der Verlust an Maß und Zusammenhang, der in der aktuellen Architektur des ländlichen Raums massiv zum Ausdruck kommt. Schaut man sich die Pläne für den Umbau des Bürgerhauses in Schortens an, dann bekommt man eine Ahnung, was der SPD und Bürgermeister Wagner für den Bau einer Veranstaltungshalle ungefähr vorzuschweben scheint. Statt Sanierung eines vorhandenen Hauses und Entwicklung eines innovativen Konzepts setzt man auf einen technisch hochwertigen Neubau, der vor allem eines erfüllt: Repräsentanz.

Bauskizze für das Bürgerhaus Schortens vom Januar 2021. Über die Fassadengestaltung wird im Stadtrat Schortens noch diskutiert. Quelle: Stadt Schortens

Bürgermeister Wagner, der sich an Beispielen wie Oldenburg oder Schortens orientiert (vgl Interview mit G.- Ch. Wagner), und der Stadtrat haben den Dialog über ein Veranstaltungshaus nun an einen temporären Bürgerrat delegiert. Dieses neue Modell, mit dem Demokratie als das Versprechen einer emanzipativen Moderne wieder erfahrbar werden soll, wird nunmehr instrumentalisiert. Bedient man unreflektierte Erwartungen mit entsprechenden Fakten, dann gibt es zwischen motivierten Bürgerräten und geladenen Experten eine unheilige Allianz.

Ohne konkrete eigene Gestaltungserfahrungen und Geschichte, die ein Haus vergegenwärtigt, wird ein solcher Neubau als Kultur- und Veranstaltungshaus nicht mehr als ein bloßes Dienstleistungsangebot sein und bleiben. Das hat mit Kultur wenig zu tun, sondern wird eher dem unseligen Bau der EWE ähneln. Eine vermeintliche Moderne, die kein Gefühl für Proportionalität und kein Verständnis für den architektonischen Zusammenhang einer Stadt hat, ist nicht modern, sondern im wahrsten Sinne des Wortes brutal2. Was sich selbstgefällig als Veränderung durch vermeintlich Neues feiern möchte, ist gegenüber den kommenden Generationen nichts anderes als Missbrauch. Ein Missbrauch, den sich diese Stadt mit einer Bundesstraße quer durch die Innenstadt jeden Tag vergegenwärtigen muss.

Norbert Ahlers

1) Albrechts & Anders hatten damals maßgeblich die B 437 als Durchgangsstraße befürwortet.

2) Ratsherr Uwe Cassens hat mich in diesem Zusammenhang auf § 34 des Baugesetzbuches hingewiesen, der im aktuellen Wortlaut folgendes festschreibt:

II. § 34 Abs. 1 des BauGB: Baugesetzbuch
Zulässigkeit von Vorhaben innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile

(1) Innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile ist ein Vorhaben zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist. Die Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse müssen gewahrt bleiben; das Ortsbild darf nicht beeinträchtigt werden.

Über Norbert Ahlers

Seit 2014 wieder zurück in Varel. Ist im Natur- und Kulturbereich engagiert und verantwortlich für das Projekt Villa Schmalfilm, das die Filmkultur in der kleinen Stadt fördern möchte.
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